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Bürgerräte weiterdenken
10 Fragen zur ihrer Verstetigung
"Bürgerräte sind kein Allheilmittel für die Probleme der Demokratie!"
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Aber was, wenn doch?
Im Folgenden wird synonym zu "Bürgerrat" das inklusivere "Bürger*innenrat" verwendet sowie der technisch spezifischere und gleichzeitig allgemeinere Begriff "gelostes, deliberatives Forum" bzw. dessen Abkürzung "gdF".
(583 Wörter)
Die Parlamente der liberalen Demokratien sind dem 21. Jahrhundert nicht gewachsen. Sie haben mit drei Problemen zu kämpfen: erstens mit einer Kaskade globaler Krisen ungekannten Ausmaßes, zweitens mit fortwährenden Angriffen antidemokratischer Populisten und drittens mit den eigenen demokratischen Mängeln.
Die ersten beiden sind weithin dokumentiert und werden auch unablässig thematisiert. Dagegen wird die Unzulänglichkeit der parlamentarischen Demokratie gerne ignoriert, und das, obwohl das Demokratie-Problem das einzige der drei ist, gegen das selbstbestimmt etwas unternommen werden kann. Es lohnt sich also, einen Blick darauf zu richten.
Im Folgenden nur ein Auszug aus den Problemen, die die repräsentative, parlamentarische Demokratie selbst erzeugt, und die sie in Bezug auf die wirklich großen Herausforderungen des Jahrhunderts auch langfristig handlungsunfähig machen.
Da wäre zum einen das gegenseitige Zerfleischen der Fraktionen im Parlament aus wahltaktischen Gründen. Dazu kommt das Blockieren von Zusammenarbeit und gemeinsamen Entscheidungen aus ideologischen Gründen mit imaginären, parteipolitischen roten Linien aufgrund von Klientelpolitik.
Gepaart wird dies mit der Angst der Gewählten vor richtungsweisenden und vermeintlich unpopulären Entscheidungen, die nicht nur Ausschüsse und Parlamente lähmt, sondern das ganze Land.
Weiterhin geben hierarchische Strukturen auch in demokratischen Parteien oft die offizielle Denkweise per Personenkult top down vor. Das Abstimmungsverhalten der individuellen Abgeordneten wird per Fraktionszwang gesteuert. Die parteiinterne Meinungsbildung und Programmentwicklung, die ja weithin auf allen Ebenen betrieben wird, wird so nicht selten zu einem demokratischen Feigenblatt degradiert.
Außerdem wirkt die durchlässige Wirtschaft-Politik-Grenze vor, nach und manchmal auch während der Wahlmandate jeder Vertrauensbildung zwischen Wählenden und Gewählten aktiv entgegen.
Diese Liste ließe sich noch um einiges erweitern, hier nur ein paar Stichworte, deren Möglichkeit alleine schon große Fragezeichen aufwerfen sollte: ignorierte Volksentscheide (Deutsche Wohnen & Co. enteignen), Korruptionsskandale (Europa-Parlamentarier*innen, die bezahlt wurden, um die Interessen von Drittstaaten zu vertreten), opportunistische Wahlrechtsreformen der Regierung (Streichung der Grundmandatsklausel), destruktive haushalterische Selbstamputation entgegen wissenschaftlichen und wirtschaftspraktischen Rat (Heiligkeit der Schuldenbremse), etc. Das Bild demokratischer Mangelhaftigkeit ist ausreichend gezeichnet.
Es muss eindeutig benannt werden: All diese Probleme und Strukturschwächen bestehen schon, bevor die Klimakatastrophe brutal nach Aufmerksamkeit verlangt und die Gemüter spaltet, bevor hegemonial denkende Dritte ihre Großmachtansprüche einfach mit Gewalt durchsetzen, bevor der Kapitalismus alle Lebensgrundlagen auffrisst, bevor die Schere zwischen Arm und Reich jedes Jahr neue Rekorde feiert, bevor Pandemien die Gesellschaften an den Rand zumutbarer Zustände bringen, usw.
Es muss ebenso eindeutig benannt werden: All diese Probleme und Strukturschwächen bestehen schon, bevor Populisten und Antidemokraten überhaupt die Bühne betreten, um diese Schwächen zu verstärken und auszuschlachten. Es ist nicht viel Fantasie notwendig, um zu dem Schluss zu gelangen, dass die parlamentarische Demokratie in diesem Status Quo den Populisten und Antidemokraten diese Bühne überhaupt erst baut.
So lange die Krisen überschaubar waren und es nur darum ging, den gesellschaftlichen Reichtum halbwegs angemessen zu verteilen, war das alte Polit-System mit Parteipolitik und Parlamentarismus brauchbar genug, um inhärente Schwächen zu kaschieren.
Doch in den letzten Jahren ist im gleichen Maße, wie die Parteien und Parlamente an Gestaltungsfähigkeit einbüßten und die Ergebnisse an Mangelhaftigkeit zunahmen, der Ruf der Wählerschaft immer lauter geworden, nach mehr Partizipation, nach mehr Gehörtwerden, nach mehr Mitentscheidung.
Denn zur Realität gehört auch, dass alle der hier beschriebenen Probleme der Demokratie und der Welt nicht unlösbar sind. In so ziemlich allen Fällen liegen Lösungen und Vorschläge – teils schon seit Jahrzehnten – auf dem Tisch und können entweder diskutiert, abgewogen und angepasst oder schlicht in die Tat umgesetzt werden.
Aber es mangelt einfach am politischen Willen der Profiteure des kapitalistischen und des eingeschränkt demokratischen Systems. Deshalb bedarf es nun der Intervention des wahren Souveräns: des Volkes, und zwar mithilfe geloster, deliberativer Foren.
(510 Wörter)
In letzter Zeit produziert die Arbeit vieler Parlamente im Angesicht massiver Herausforderungen und Angriffe immer weniger Ergebnisse, in denen die Menschen sich und ihre Lebensrealität wiederfinden. Die Parlamente und Politiker*innen verlieren an Glaubwürdigkeit, das Vertrauen in die Demokratie erodiert stetig ein bisschen mehr.
Die Lösung dafür darf aber gerade nicht die Protestwahl am antidemokratischen Rand sein, um den "Eliten mal eins auf den Deckel zu geben". Ein Mangel an Demokratie lässt sich immer nur durch mehr Demokratie beheben, nie durch weniger.
Bei dem hier erörterten Vorschlag geht es um eine Stärkung der repräsentativen Demokratie, die als Kern ein Parlament hat, sich aber nicht darauf beschränken darf.
Und für die Ergänzung des Parlaments bietet sich ein Jahrtausende altes Konzept an, das schon im alten Athen funktioniert hat: die Auswahl zusätzlicher politischer Repräsentant*innen aus der Bürger*innenschaft durch Losverfahren. Klingt verrückt? Und doch gibt es kein Land auf der Welt, in dem dieses Verfahren häufiger angewendet wird, als Deutschland. Es hört auf viele verschiedene Namen. Der gebräuchlichste ist "Bürgerrat".
Diese Räte sind Orte, an denen faktenbasiert und inklusiv informiert und vor allem ergebnisoffen beratschlagt und ausgehandelt (oder neudeutsch: deliberiert) wird. Und erst danach wird breit mehrheitlich und transparent entschieden.
Bürger*innenräte sind Orte, die der reformbedürftigen Arbeit in den Parlamenten so wohlklingende Konzepte zur Seite stellen wie Vernunft, Dialog, Zuhören, Unabhängigkeit, Gemeinschaft, Lösungsinteresse, Teilhabe, Mitspracherecht und gelebte Verantwortung.
Es klingt so einfach, ist aber extrem schwer: Das Hilfsmittel für alle Probleme ist: miteinander reden. Und zwar nicht allein im Parlament. Nein, geredet werden muss auch von einfachen und gelosten Bürger*innen, die auf Augenhöhe und in Vertretung für ihre Bevölkerung zusammenkommen. Ihnen werden alle neutralen Fakten und die Ansichten aller Betroffenen sowie ausreichend Zeit zur Verfügung gestellt. So erarbeiten sie Lösungen, die tatsächlich alle Perspektiven berücksichtigen.
Die Einbeziehung des Wissens und der Lebenserfahrungen der Bürger*innen könnte viele Probleme zugleich lösen. Sie könnte sowohl dem Politik-Frust der Bürger*innen Einhalt gebieten als auch der Populismus-Lust Grenzen setzen, weil die Menschen sich wieder ernst genommen fühlen und aktiv etwas beitragen können.
Auch spiegeln Bürger*innenräte im Gegensatz zu Parlamenten tatsächlich repräsentativ die Bevölkerung in ihren Lebenswirklichkeiten, Bedürfnissen und Meinungen wider und das fließt in alle Entscheidungen mit ein. So könnten auch notwendige, teilweise mit Sicherheit auch schmerzhafte Veränderungen angestoßen werden, die von der Bevölkerung in großer Breite mitgetragen werden.
Die Gesellschaft könnte in seiner Diversität und Widersprüchlichkeit wieder weiter zusammenrücken, weil Entscheidungen nicht mehr gegeneinander, sondern miteinander gefällt würden. Die populistische Ausbeutung von sich gegenüberstehenden Problemwelten könnte so maximal erschwert werden.
Es klingt zu schön, um wahr zu sein. Sind nicht wenigstens leise Zweifel angebracht, dass geloste, deliberative Foren zu all dem Beschriebenen in der Lage sind? Die Erfahrungen aus mehreren hundert von ihnen zwischen 2019 und 2024 weltweit, die oft sogar wissenschaftlich begleitet wurden, deuten stark darauf hin, dass dieses Potenzial existiert.
Doch auch ohne diesen Optimismus: Wir brauchen einen Systemwandel, und zwar eine besser legitimierte und besser funktionierende Demokratie mit dem Volk als wahrem Souverän, das mithilfe geloster, deliberativer Foren Gesetze initiieren, Parlamente beraten und Gesetzesentwürfen zustimmen oder sie ablehnen kann.
(564 Wörter)
Die Forderung, Bürger*innenräte ins parlamentarische System zu integrieren und zu verstetigen, bedeutet, sich an den Tisch der Mächtigen zu setzen und dauerhaft mitreden zu wollen. An diesem Tisch wird ein Preis dafür verlangt werden. Dann ist Vorsicht geboten, denn wenn allein die Institutionalisierung von Bürger*innenräten das Ziel ist, werden die Tischnachbarn dieses Ansinnen wie selbstverständlich willkommen heißen und daraus einen zahnlosen Tiger machen, der zwar institutionalisiert mitreden darf, wenn er dazu aufgefordert wird, aber bei finalen Entscheidungen nichts zu melden hat.
Es droht die Gefahr einer Einhegung von Bürger*innenräten, wenn nicht sichergestellt wird, dass ihr volles Potenzial erkannt wird. Erst dann sollte eine Institutionalisierung folgen, und zwar angemessen differenziert sowie gesellschaftlich breit vereinbart.
Der Möglichkeitsraum, den die Verstetigungs-Debatte öffnet, beinhaltet selbstverständlich, dass geloste, deliberative Foren (gdF) die Gesetzgebenden beraten können. Aber darüber hinaus könnten sie auch Gesetze initiieren, verpflichtende Entscheidungen treffen und sogar Gesetzesentwürfe validieren oder ihr Veto einlegen. Die Praxis zeigt, dass gdF vielseitig einsetzbar sind. Hier ein kleiner Überblick zu der bereits bestehenden Realpolitik mit Bürger*innenräten in Europa.
Das Berlin Institut für Partizipation hat 2023 die Broschüre "Der Bürgerrat PLUS" herausgegeben und darin Folgendes herausgearbeitet: Der klassische Einsatz in repräsentativen Demokratien wie in Deutschland oder Frankreich ist die Beratung von Parlamenten, bzw. die Entwicklung von Vorschlägen für die Gesetzgebung. Diese Ergebnisse können dann von den Gesetzgebenden berücksichtigt werden, müssen aber nicht.
Dagegen haben gdF im irischen Modell auf nationaler Ebene nicht die Aufgabe, das Parlament bei der Entscheidungsfindung zu unterstützen, sondern es bei besonders strittigen Fragen von der Entscheidungsfindung zu entlasten. Die im gdF erarbeiteten Empfehlungen münden direkt in einer Volksabstimmung, die dann wiederum für die Parlamentarier*innen bindend ist.
Im kommunalen Danziger Modell werden sogar diejenigen Vereinbarungen verbindlich umgesetzt, die eine mehrheitliche Zustimmung von mindestens 80 % der Teilnehmenden des gdF finden. Und in einigen Städten in Deutschland entscheiden kommunale Bürger*innenräte sogar über die Verwendung eines Teils des kommunalen Haushalts, wie u. a. in Konstanz.
Wichtig ist allerdings auch die Frage, wer die gelosten, deliberativen Foren initiiert und die Themen festlegt. Wer sie stattfinden oder auch nicht stattfinden lassen kann und die Themen setzen oder weglassen kann, besitzt viel Macht darüber, ob gdF wirklich ihre volle Wirkung entfalten können.
In den Modellen, wie sie zum Beispiel in Deutschland, Frankreich und Irland durchgeführt werden, obliegt die Entscheidung darüber jeweils den Parlamenten. Im regionalen Vorarlberger Modell und dem schon beschriebenen kommunalen Danziger Modell kann ein gdF zu einem gewünschten Thema auch durch eine Bürger*innen-Initiative initiiert werden.
Oder in dem regionalen ostbelgischen Modell arbeiten sogar zwei gdF zusammen, die fest institutionalisiert sind, das heißt, sie müssen gar nicht initiiert werden. Sie finden regelmäßig statt und werden regelmäßig neu gelost. Das eine gdF entwickelt ganz klassisch Empfehlungen für das Parlament, doch das zweite entscheidet alleinig über die Themensetzung des ersten.
Diese – zugegeben sehr eurozentristischen – Beispiele zeigen bereits, wie flexibel das demokratische Instrument des gelosten, deliberativen Forums eingesetzt werden kann. Es lohnt sich aber auch auf andere Kontinente zu schauen, wo es, angepasst an örtliche Gegebenheiten, demokratische Kultur und deliberatorische Bedürfnisse ganz unterschiedlich eingesetzt wird, und um es ganz klar zu formulieren: nicht nur in thematisch durch das Parlament vorgegebener, rein beratender und somit ignorierbarer Tätigkeit.
Sollten geloste, deliberative Foren lediglich zur Scheindemokratisierung verwendet werden, und sollten die Möglichkeit zur Gesetzesinitiative sowie die Entscheidungsgewalt letztlich alleinig beim Parlament mit all seinen inhärenten, undemokratischen Schwächen verbleiben, dann würde eine große Chance zur Demokratisierung sehenden Auges vertan werden.
(618 Wörter)
Wie können geloste, deliberative Foren in ihrer ganzen Vielfältigkeit nun in die parlamentarischen Strukturen implementiert werden? Hier soll die Idee einer hybriden legislativen Struktur skizziert werden: das Tetra-Modell (siehe Grafik).
Vorab ist es wichtig, festzuhalten, dass die Arbeit des Parlaments im Rahmen der Gesetzgebung wie bisher stattfindet, von der Gesetzesinitiative, über die Lesungen, die Ausschussarbeit inklusive Anhörungen, über die parlamentarische Debatte bis hin zur Abstimmung. Daran wird nicht gerüttelt. Das Parlament bleibt der Kern aller gesetzgeberischen Tätigkeit.
Allerdings werden dem Parlament im Tetra-Modell drei Institutionen – nennen wir sie "Institute" – beigestellt, die es unterstützen. Da wären das "Institut für Initiativen", das "Institut für Konsultationen" und das "Institut für Validierung". Sie koordinieren die Arbeit ihrer jeweiligen gelosten, deliberativen Foren, die unabhängig voneinander agieren.
Das erste Institut, das Institut für Initiativen, würde mithilfe diverser Bürger*innenbeteiligungsverfahren ein Register neuer Ideen und Bedürfnisse für die Gesetzgebung bereitstellen. Aus diesem Register könnten auch die Parlamentarier*innen schöpfen. Das Institut kann darüber hinaus gdF einrichten, in denen entschieden wird, welche Ideen – die von den Parlamentarier*innen ignoriert werden – dennoch formalisiert und dem Parlament als verpflichtende Gesetzgebungsinitiativen vorgelegt werden sollen.
Das zweite Institut, das Institut für Konsultationen, hingegen organisiert gdF zum Zweck der Unterstützung und Willensbildung im konkreten parlamentarischen Gesetzgebungsprozess. Das Institut kann in zwei Fällen tätig werden, zum einen auf Bitte des Parlaments hin, wie es jetzt bereits der Fall ist, und zum anderen durch eine Beauftragung durch das Institut für Initiativen, zum Beispiel weil die Parlamentarier*innen einer verpflichtenden Gesetzesinitiative in einem bestimmten Zeitrahmen nicht nachkommen.
Außerdem könnte das Institut für Konsultationen im Umkehrschluss das Institut für Initiativen anrufen und bitten, sich mit einer Gesetzgebungsinitiative zu beschäftigen, falls im Rahmen von Bürger*innenräten die Erkenntnis reift, das zu Teilaspekten eines Themas noch weitere wichtige Gesetzesänderungen notwendig sind.
Schließlich könnte das dritte Institut, das Institut für Validierung, ebenso mithilfe diverser Bürger*innenbeteiligungsverfahren ein Register erstellen, dieses Mal mit Einwänden gegen bestimmte Gesetzesentwürfe. Im Idealfall könnten diese im Gesetzgebungsprozess direkt adressiert werden.
Bürger*innenräte initialisieren könnte das Institut natürlich auch. Zum Beispiel, wenn das Institut für Konsultationen feststellt, dass ein Gesetzesentwurf, der mit ihrer Unterstützung entstanden ist, zu weit von den Empfehlungen abweicht. Dann könnte es das Institut für Validierung anrufen, um das Ergebnis noch einmal unabhängig von einem gdF evaluieren zu lassen.
Bei einem finalen Gesetzentwurf hingegen, der gänzlich ohne Beteiligung eines gdF erarbeitet wurde, und der auf eine große Zahl an kritischen Reaktionen kommt, könnte ein Bürger*innenrat einberufen werden, der mit seiner Entscheidung die demokratische Legitimität eines neuen Gesetzes untermauert, indem er diesem nach angemessener Deliberation entweder zustimmt oder ihn mit Anmerkungen zu einigen Details an das Parlament zurück verweist.
Bei einer sehr großen Einigkeit, bzw. mit einer vereinbarten Supermehrheit könnte dieser Bürger*innenrat den Gesetzesentwurf mit einem Veto sogar vollständig ablehnen. In diesem Fall könnte das Institut für Validierung wiederum das Institut für Konsultationen anrufen, um mithilfe eines Bürger*innenrats neue Eckpunkte für dieses Gesetz herauszuarbeiten, welche für das Parlament in einem erneuten Anlauf dann wiederum bindend sind.
Um es nochmal zu betonen: Die Gesetzgebungsarbeit im Parlament unterläge im Tetra-Modell keiner grundsätzlichen Veränderung. Die meisten Gesetze würden immer noch ohne Beteiligung von gdF entwickelt und beschlossen. Hinzu käme allerdings eine externe Evaluierung und Validierung durch die Bürger*innen, die die Legitimität der getroffenen Entscheidungen fundamental stärken kann.
Nur bei Themen, die der Bevölkerung besonders wichtig sind, aber vom Parlament lieber ignoriert werden, sowie bei Themen, die zu streitbar für eine Kompromissfindung sind, kommen das Institut für Initiativen sowie das Institut für Konsultationen zum Einsatz. Das hat unter anderem auch den Grund, dass die Organisation, Durchführung und Evaluierung von gdF ein recht kostspieliges Unterfangen ist und als Instrument nicht sinnlos in Anwendung gebracht werden sollte, sondern am besten immer genau da, wo eine Demokratisierung gerade notwendig ist.
(575 Wörter)
Zur Ergänzung der Theorie des Tetra-Modells, wie geloste, deliberative Foren in die bestehende parlamentarische Gesetzgebungsstruktur integriert werden könnten (siehe Punkt 4), hier nun ein praktisches Beispiel zur besseren Nachvollziehbarkeit: die Erbschaftssteuer.
Nehmen wir an, dass dieses Thema im Register des Instituts für Initiativen weit oben auf der Liste steht, weil über Bürgerinitiativen, Petitionen oder andere Beteiligungsverfahren deutlich wird, dass sehr viele Menschen in der Bevölkerung dieses Thema als wichtig erachten und sich dazu eine andere gesetzliche Regelung wünschen.
Das Parlament traut sich an dieses Thema aber nicht heran, denn es ist absehbar, dass die Ansichten dazu für eine parlamentarische Mehrheit zu weit auseinanderliegen. Ein gelostes, deliberatives Forum (gdF) kommt zu dem Schluss, dass dieses Thema unter mehreren drängenden Themen am dringendsten angegangen werden muss, weil es wichtige Veränderungen anstoßen könnte.
So erhält das Parlament einen verpflichtenden Auftrag, sich darum zu kümmern und nimmt diesen auch an. Im parlamentarischen Prozess allerdings zerbröselt das anfängliche Engagement aufgrund völlig verschiedener Sichtweisen. Es fehlt die gemeinsame Basis in den Vorstellungen und es ist auch nicht klar, wo genau die Bevölkerung gerne Veränderungen sehen würde.
Also erbittet das Parlament beim Institut für Konsultationen die Hilfe eines gdF. Dann kann mit den daraus hervorgegangenen Leitplanken, welche Kompromisse im Parlament erleichtern sollen, konstruktiv weitergearbeitet werden, im Idealfall bis zum fertigen Gesetz.
Doch es tritt der schlimmste Fall ein, hoffentlich ein absoluter Ausnahmefall: Auch im zweiten Anlauf liegen die Vorstellungen der Abgeordneten zu weit auseinander, sodass es nie zu einem fertigen Gesetzesentwurf kommt. Doch aufgrund der Verpflichtung des Parlaments, ein Gesetz zu erarbeiten, ist eine Versickerung des Themas im parlamentarischen Prozess ausgeschlossen.
Das Institut für Initiativen ruft das Institut für Konsultationen an und es wird ein zweites Mal ein gdF durchgeführt. Alle darin supermehrheitlich beschlossenen Ergebnisse müssen von den Parlamentarier*innen dann umgesetzt werden. Sollte der daraus entstandene Gesetzesentwurf dann wiederum im abschließenden Votum des Parlaments keine Mehrheit finden, könnte er in einem entscheidenden Referendum münden.
In einem eher optimistischen Szenario hingegen finden die Parlamentarier*innen nach zähen Verhandlungen einen Kompromiss, der eine Abstimmungsmehrheit bekäme, und zwar gänzlich ohne Hilfe eines gdF. Hier kann das Institut für Validierung einen Bürger*innenrat noch einmal draufschauen lassen, um sicherzustellen, dass die Bevölkerung sich darin auch wiederfindet.
Eine Zustimmung würde die demokratische Legitimität drastisch erhöhen. Die Forderung nach einer Überarbeitung könnte den Entwurf verbessern, indem zum Beispiel ungenutzte Potenziale aufgezeigt würden. Doch sollte der Entwurf außerordentlich undemokratisch sein, könnte er mit einer vereinbarten Supermehrheit verhindert werden.
In diesem Fall käme dann wiederum das Institut für Konsultationen zum Einsatz und würde ein gdF einberufen. Dieses würde dann Richtlinien erarbeiten, welche für einen neuen Gesetzesentwurf des Parlaments dann bindend sind. Sollte dieser Entwurf dann im abschließenden Votum des Parlaments trotz der Berücksichtigung des deliberierten Volkswillens keine Mehrheit finden, könnte auch in diesem Fall ein entscheidendes Referendum stattfinden.
Das Parlament trüge also die Verantwortung für die Entwicklung eines breit mitgetragenen Gesetzesentwurfs. Ideologische Gräben, die eine Kompromissfindung erschweren würden, wären nur temporär ein Hindernis für eine Einigung.
Der deliberierte Volkswille als konkreter Kompromissvorschlag soll die Versickerung des Themas verhindern und den Abgeordneten dabei helfen, ihre gesetzgeberische Verantwortung wahrzunehmen, falls parteipolitische Blockaden oder rote Linien sie daran hindern.
Sollte diese Hilfe ignoriert werden oder sollten die parlamentarischen Gräben nicht zu überwinden sein, dann würden die Parlamentarier*innen zu einer inhaltlichen Umsetzung der Bürger*innenratsergebnisse verpflichtet werden. Und sollte eine mehrheitliche Zustimmung im Parlament trotz allem unmöglich sein, könnte dem Parlament die Verantwortung entzogen werden und die Bevölkerung könnte in einem Volksentscheid darüber abstimmen.
(616 Wörter)
Für die Implementierung geloster, deliberativer Foren in die parlamentarische Entscheidungsfindung muss sich auch der Arbeitsauftrag und das Selbstverständnis der gewählten Politiker*innen in repräsentativen Demokratien zwingend erweitern. Es geht um eine wenig beachtete, aber grundlegende Veränderung, ohne die eine Demokratisierung schon in den ersten Schritten scheitern wird.
Wir befinden uns in der Situation, dass nur die Gesetzgebenden selbst darüber entscheiden, wie die Gesetzgebung gestaltet wird. Dies zu ignorieren und trotzdem Veränderungen zu fordern, bedeutete Revolution, wahrscheinlich eine undemokratische. Deshalb muss jede Demokratisierung unserer politischen Systeme mit der Demokratisierung der Abgeordneten beginnen.
Parlamentarier*innen in liberalen Demokratien werden weithin als beauftragte Deliberator*innen und legitimierte Entscheider*innen verstanden. Die meisten von ihnen verstehen sich auch selbst so und würden wohl auch bestätigen, dass sie sich in dieser Funktion als Diener*innen des Volkes sehen. Auch die Notwendigkeit der Beschränkung ihrer Macht und die Stärkung der etablierten Gewaltenteilung kriegt wahrscheinlich von der überwiegenden Mehrheit der Abgeordneten eine Unterschrift.
Doch die Entwicklungen dieser Tage zeigen, dass das nur die Basis sein kann, ja, dass es noch weit darüber hinaus gehen muss, wenn sich der Status Quo der Demokratie nicht weiter verschlechtern soll. Parlamentarier*innen müssen mehr können als systemloyales "Rumdemokratisieren" auf gut bezahlten Mandatssesseln und das Volk muss mehr von ihnen verlangen.
Wirklich engagierte gewählte Repräsentant*innen des Volkes zu sein, das bedeutet - ganz profan -, zu wissen, wen und welche Meinung und vor allem auch welche Ideen man repräsentiert. Das heißt, wirklich verstehen zu wollen, was die repräsentierten Menschen denken, fühlen, benötigen, wünschen und vorschlagen, auch wenn dies widersprüchlich ist und unmöglich vereinbar scheint.
Das heißt für die Repräsentant*innen auch, Entscheidungen allein auf Basis singulärer Interessen zu vermeiden und deshalb alle erdenklichen Möglichkeiten der Mitsprache, der Mitbestimmung und der Mitwirkung durch die Repräsentierten in ihrer Arbeit zu nutzen zu wissen.
Die Repräsentant*innen dürfen nicht nur an der Akzeptanz der von ihnen getroffenen Entscheidung interessiert sein, sondern sollten eine diskursive, wertschätzende Ausgestaltung der Entscheidungsfindung zusammen mit den Repräsentierten anstreben, die automatisch Akzeptanz schafft. Sie sollten ein Interesse an ehrlicher, ergebnisoffener Deliberation haben, die frei von parteipolitischen Dogmen und thematischen roten Linien ist.
Und darüber hinaus sollte es ihnen ein Anliegen sein, bisher Nichtbeteiligte und Nichtaktive sowie Nicht-Betroffene und nur eventuell Betroffene einer Entscheidung in den Entscheidungsfindungsprozess zu integrieren, um die Basis für die Akzeptanz einer getroffenen Entscheidung maximal zu verbreitern.
Ergo dürfen sie sich nicht als allein verantwortliche Entscheider*innen für alle von ihnen Repräsentierten verstehen, sondern als Dienstleister*innen zur deliberierenden Destillation des Volkswillens aus allen möglichen Quellen und Perspektiven.
Und schließlich müssen sie akzeptieren, dass nur ehrliche Transparenz in ihrer Arbeit und eine ebenso ehrliche Kontrolle derselben durch unabhängige Gremien ihre Arbeit wirklich legitimieren.
Doch wie können Abgeordnete – engagiert wie beschrieben – überhaupt zu Werke gehen? Selbst wenn der Status Quo unserer Demokratie all diese Eigenschaften zur Entfaltung komme ließe, stünde jede*r einzelne Abgeordnete vor massiven logistischen Problemen. Wie soll das gehen, alle mitreden lassen? Alle verstehen? Alle berücksichtigen? Alle einbeziehen? Sich von allen über die Schulter schauen lassen? Gar nicht ist die naheliegende und richtige Antwort.
Die Bürger*innen, die mitreden, verständlich machen und Berücksichtigung aushandeln – also deliberieren – sowie die Repräsentant*innen kontrollieren, müssen ebenfalls ihre Bevölkerung repräsentieren und aus dem großen Topf aller ausgewählt werden, aber eben nicht gewählt, sondern gelost.
Und die gewählten Abgeordneten dürfen die gelosten Repräsentant*innen nicht als Konkurrenz auf ihren Machtanspruch betrachten, sondern als Unterstützung in ihrem Prozess der Entscheidungsfindung.
Dass die Demokratisierung von den gewählten Parlamentarier*innen selbst durchgeführt werden muss, führt zu der simplen Erkenntnis, dass entweder die Parlamentarier*innen dazu gebracht werden müssen, sich für die Implementierung von gdF auf ganzer Breite einzusetzen, oder dass wir alle nur noch Kandidierende wählen dürfen, die dies bereits tun.
(607 Wörter)
Was ist eigentlich mit denjenigen, die sich zur Wahl stellen, aber nicht gewählt werden? Was ist mit denen, die in die Vorauswahl eines Bürger*innenrates gelost werden und gerne teilnehmen würden, aber beim zweiten Losdurchgang nicht in die Endauswahl kommen? Was ist mit denen, die gerne etwas beitragen wollen, die aber weder Zugang zu dem Bürger*innenrat haben, noch zu dem Parlament?
Eine wirklich legitime demokratische Entscheidungsfindung versucht, diese Menschen trotzdem in den Prozess zu integrieren. Dazu stehen eine Vielzahl an Beteiligungsformaten zur Verfügung, die besten sind niedrigschwellig. Sie variieren je nach legislativer Ebene und auch je nach Region und demokratischer Tradition. Eine wirksame Kombination der hybriden legislativen Strukturen mit diesen Partizipationsmöglichkeiten ist essentiell, um die Legitimität und die Qualität der getroffenen Entscheidungen weiter zu erhöhen.
Wie eine solche Kombination aussehen kann, sollte von jeder demokratischen Gemeinschaft selbst entschieden werden, am besten im Rahmen von gelosten, deliberativen Foren. Im Folgenden nur ein Ausschnitt aus der Vielzahl an Möglichkeiten, ohne Anspruch auf Vollständigkeit.
Schauen wir uns konsultative Bürger*innenräten an, die das Parlament beraten: Im Vorhinein könnte ein Crowdsourcing stattfinden. Ideen, Vorschläge, Probleme, praktische Hindernisse, Praxisberichte aus erster Hand werden online und/oder offline gesammelt, einfach das geballte Wissen all derjenigen aus der Bevölkerung, die zu dem Thema etwas zu sagen haben.
Aber auch während der Durchführung des Rates lässt sich die Bevölkerung involvieren, etwa in Form von Zwischenabstimmungen über die Arbeit des Rates, um etwa bestimmte Ideen zu priorisieren, oder in Form von Feedbackschleifen zu Zwischenständen, um eine Berücksichtigung aller Interessen zu gewährleisten.
Doch selbst das reicht nicht aus. Von Beginn an und prozessbegleitend ist es auch wichtig, juristische Gutachten zu integrieren, um die Rechtssicherheit zu gewährleisten. Dazu kommen Verwaltungsgutachten, um die Umsetzbarkeit in den Exekutivorganen mitzudenken, und Gutachten von Stakeholdern aus angrenzenden Themenbereichen, um ineffektive Insellösungen zu vermeiden.
Und im Nachgang sollten Evaluationsangebote geschaffen werden, bei denen die Erfahrungsberichte und Meinungen der Betroffenen zur Umsetzung, Wirksamkeit und zu eventuellen Folgeproblemen eingeholt werden. Diese können dann - falls notwendig - einen Vorgang der Anpassung in Gang setzen.
Aber auch bei Bürger*innenräten, in denen es um Gesetzesinitiativen geht, lassen sich weitreichende Instrumente der Partizipation einsetzen. Zum Beispiel können je nach legislativer Ebene Petitionen oder Einwohnendenanträge zum Einsatz kommen, die eine bestimmte Gesetzesinitiative fordern. Und/oder es werden Online- und Offline-Tools bereitgestellt, in denen von allen in der Bevölkerung Ideen, Missstände oder Bedürfnisse eingebracht werden können. Wenn dann noch eine digitale Bewertungs- oder Abstimmungsebene integriert ist, die ein Ranking nach Wichtigkeit ermöglicht, könnte schon eine Vorauswahl an Themen stattfinden, die das tatsächliche Interesse der Bevölkerung abbildet.
Und natürlich können auch bei Bürger*innenräten für Gesetzesvalidierung weitere Demokratie-Werkzeuge zur Anwendung kommen. Zum Beispiel könnte ein Bürgerbegehren einen Bürger*innenrat fordern, der einen Gesetzesentwurf vor Inkrafttreten noch einmal unter die Lupe nimmt. Oder es könnte auch hier mit Hilfe von Online- und Offline-Plattformen ein Register erstellt werden, das Einwände und Begründungen gegen Gesetzesvorhaben sammelt. Auch hier könnte eine digitale Bewertungs- und Abstimmungsplattform die gegebenenfalls breite gesellschaftliche Kritik bündeln und gegebenenfalls zur Durchführung eines gdF führen. Aber auch Petitionen und Einwohnendenanträge würden hier geeignete Werkzeuge sein.
Darüber hinaus sollte selbstverständlich auch die Nutzung von Volksabstimmungen möglich sein, etwa bei unüberbrückbarer Uneinigkeit zwischen Parlament und Bürger*innenrat, oder bei Verfassungsänderungen, oder initiiert durch ein Bürgerbegehren, das darauf basiert, das vielleicht Teile der Bevölkerung mit einem vom Parlament verabschiedeten und einem gdF validierten Gesetz trotzdem nicht zufrieden sind.
Die Einsatzmöglichkeiten von partizipatorischen und direktdemokratischen Werkzeugen sind ungeheuer vielfältig. Die im Tetra-Modell (siehe Artikel 04) vorgeschlagene hybride legislative Struktur der Gesetzgebung sollte keinesfalls als ihr Ersatz verstanden werden, sondern im Gegenteil als der Nährboden, auf dem diese demokratischen Praktiken weiter und besonders gut gedeihen können.
(675 Wörter)
Eine historische Errungenschaft, die in vielen Konflikten und über Jahrhunderte erkämpft wurde, bildet das Fundament der liberalen Demokratie: drei unabhängige Gewalten, die sich gegenseitig kontrollieren, um Gerechtigkeit und Interessenausgleich zu gewährleisten.
Doch im 21. Jahrhundert kann diese Errungenschaft weder verhindern, dass Regierungen die Bedürfnisse ihrer Bevölkerungen missachten, noch, dass illiberale Kräfte weltweit die Entdemokratisierung vorantreiben.
So darf die Frage erlaubt sein, ob diese Gewalten-Dreiteilung tatsächlich ausreicht, um die liberale Demokratie sowie das liberale Denken und Leben wirklich zu schützen. Während illiberale Kräfte häufig ganz konkret nach einer Schwächung dieses Systems streben, sollten überzeugte Demokrat*innen seine sofortige Stärkung verfolgen.
Der Vorschlag lautet, die Gewaltenteilung auszuweiten und durch eine neue vierte Gewalt zu ergänzen, die ebenso wie die drei etablierten Gewalten konstitutionell verankert ist. Sie könnte Deliberative heißen, aus regelmäßig gelosten Bürger*innen in deliberativen Foren bestehen und die Arbeit der Legislative und Exekutive sowohl unterstützen als auch kontrollieren.
Für die politische Arbeit bedeutet das ganz konkret, dass die Macht zu politischen Entscheidungen nicht mehr nur einer gewählten Elite überlassen werden darf, egal, ob sie sich liberal nennt oder illiberal ist. Es geht um eine umfassende politische Vergesellschaftung der Entscheidungsfindung durch Losverfahren, Partizipation und Deliberation.
Dieses Mehr an Gewaltenteilung wäre das notwendige Eingeständnis, dass die bisherige, rein parlamentarische Entscheidungsfindung im Angesicht der globalen Herausforderungen und antidemokratischen Angriffe defizitär bleibt.
Ein solches Mehr an Gewaltenteilung wäre gleichzeitig ein Zeichen des Vertrauens der etablierten Gewalten, dass die Mitsprache, Mitwirkung und Mitentscheidung der Bürger*innen zu besseren und/oder demokratischeren Entscheidungen führen kann.
Ja, ein Mehr an Gewaltenteilung zu fordern, ist ein klares Statement des Misstrauens gegenüber der Leistungsfähigkeit des etablierten Drei-Gewalten-Systems, das sich auf seinem Wahl-Parlamentarismus ausruht.
Und nein, ein Mehr an Gewaltenteilung zu fordern, ist dagegen gerade kein Statement des Misstrauens gegenüber der repräsentativen Demokratie an sich, aber eben gegenüber der, die wir bisher praktizieren. Es ist vielmehr ein Aufruf, den alleinigen Auswahlmechanismus Wahlen zu hinterfragen und das Losverfahren als ebenso legitim anzuerkennen.
Die größte Herausforderung für alle Menschen besteht nun darin, das Denken in alten Mustern zu hinterfragen und auf ein neues Miteinander zu vertrauen. Wenn die Bevölkerung mitentscheiden darf, was genau die Deliberative sein soll und wie sie in das bestehende Sytem eingebunden werden soll, dann kann ihre konstitutionelle Implementierung ein großer Akt der vergesellschafteten, deliberativen Entscheidungsfindung werden, ein bedeutender Beweis für mehr gegenseitiges Vertrauen.
Denn Vertrauen ist in dieser Angelegenheit einfach der Schlüssel. Sicher, es ist einfach anzuerkennen, dass eine Entscheidungsfindung umso schwieriger wird, je mehr Menschen mitreden dürfen. Es ist wesentlich schwieriger, darauf zu vertrauen, dass die so erarbeitete Lösung aber gerade deshalb inklusiver und zufriedenstellender für alle sein kann.
Es ist auch einfach anzuerkennen, dass mehr Gewaltenteilung mehr Blockade-Möglichkeiten für Entscheidungen bietet. Es ist wesentlich schwieriger, darauf zu vertrauen, dass das Blockieren viel weniger eine Option ist, weil bereits vorher keine parteipolitischen roten Linien bestanden und eine Lösung der Probleme für die meisten Menschen wichtiger ist als Stillstand aus machtpolitischen Gründen.
Es ist einfach, in mehr Gewaltenteilung ein System des Misstrauens zu sehen. Es ist wesentlich schwieriger, darauf zu vertrauen, dass mehr gegenseitige Kontrolle und breiteres Aushandeln zu mehr Gemeinsamkeit führt, ebenso wie zu stärkerer Resilienz gegenüber antidemokratischen Bestrebungen innerhalb des Systems.
Es ist einfach, auf dem Bekannten zu beharren. Es ist einfach, auf die illiberalen Bösewichte zu zeigen und unschuldig die Hände zu heben. Dagegen ist es schwer, Verantwortung zu übernehmen und die eigene Macht zu teilen. Ja, es ist schwer, darauf zu vertrauen, dass weniger Macht in den eigenen Händen und mehr Mitbestimmung für alle die richtigen Antworten auf die Fragen unserer Zeit sind, aber es ist notwendig.
Schaut man sich die Nachrichten an, könnte man meinen, der Liberalismus müsste bald beerdigt werden, denn die illiberalen Kräfte gewinnen überall stark an Momentum. Doch Hoffnung macht die Erfahrung, dass Historie kein logischer Prozess ist, sondern dass eher Chaos das ordnende Prinzip ist. Kein Zustand, keine Entwicklung ist in Stein gemeißelt, Überraschungen können jederzeit passieren und genau das ermöglicht Wandel.
Für diesen Wandel sind mehr Gewaltenteilung, mehr Miteinander und mehr Vertrauen die Vision. Es könnte die demokratische Errungenschaft des 21. Jahrhunderts sein.
(653 Wörter)
Stellen wir uns nun vor, wir leben in einer Demokratie, die tatsächlich funktioniert. Eine Mitentscheidungs-Demokratie, eine Nachhaltigkeits-Demokratie, eine Demokratie, die als Nebenwirkung eine solidarische, zufriedene und resiliente Bevölkerung produziert. Ein ziemliches Alleinstellungsmerkmal wäre das.
Vielleicht wäre eine solche Demokratie sogar attraktiv genug für diejenigen, die sich in vermeintlich demokratischen Systemen trotzdem ungesehen, ungehört und benachteiligt fühlen, und aufgrund dessen eher mit autoritären und reaktionären Kräften sympathisieren.
Aber natürlich ist das Wunschdenken. Die Realität sieht anders aus: Die USA sind die nächste und werden nicht die letzte Nation sein, die aus der Reihe der liberalen Demokratien ausscheiden. Die Welt ist multipolar, mit aggressiven und hochgerüsteten Kräften, die ungeniert das Recht des Stärkeren ausüben. Und auch in Europa arbeiten illiberale, rechtsextreme und populistische Kräfte beständig an ihrem Aufstieg, zunehmend mit immer mehr Erfolg.
Doch kann Europa dem überhaupt etwas entgegensetzen? Realistisch betrachtet weist die Attraktivität des europäischen Angebots auf dem politischen Weltmarkt deutliche Mängel auf: u. a. außenpolitische Doppelmoral, innere Spaltung, militärische Schwäche, wachsende Xenophobie und ein langsam verblassendes Freiheitsversprechen. Der schleichende Bedeutungsverlust Europas ist längst Tatsache.
Nun stellt dieser Bedeutungsverlust natürlich nur für die Europäer selbst ein Problem dar und ist wohl vorrangig eine Verletzung des historisch großen Egos. Doch schaut man genauer hin, hat Europa der Welt vielleicht doch noch etwas anzubieten.
Da wäre einerseits ein halbwegs stabiler Binnenmarkt, an dem Externe gerne teilhaben würden. Aber aus politischer Sicht weit wichtiger ist: Noch halten viele Menschen, politische Institutionen und Abgeordnete in Europa die Flagge hoch für die liberale Demokratie - für freie Wahlen, den Schutz individueller Grundrechte, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, Minderheitenschutz und Meinungsvielfalt. Zugegeben, die Flagge ist zerfleddert und weht vielleicht auch nur noch auf Halbmast, aber sie weht noch.
Deshalb nochmal zurück zum Anfang. Stellen wir uns vor, eine oder sogar mehrere liberale Demokratien Europas haben es geschafft, ihre Demokratien zu stärken, resilienter zu machen und florieren zu lassen. Stellen wir uns vor, wir leben in einer Demokratie, in der es vorrangig darum geht, aktiv und erfolgreich an prosperierenden Gemeinschaften zu arbeiten.
Was wäre das wohl für ein Exportgut? Wie hoch wäre da wohl die Nachfrage?
Und stellen wir uns nun weiterhin vor, dass wir die Fehler des Kolonialismus und der kolonialistisch geprägten Entwicklungshilfe nicht wiederholen. Wir kleben kein Preisschild auf dieses Export-Angebot, sondern teilen das Demokratie-Know-how mit jedem, der ein echtes Interesse daran hat. Es könnte eine starke Investition in fruchtbare Beziehungen zu vielen Völkern auf dem Globus sein.
Aber selbstverständlich sollte es nicht das Ziel Europas sein, seine Regierungssysteme zu demokratisieren, um einem Bedeutungsverlust welcher Art auch immer entgegenzuwirken. Europa sollte es für sich selbst tun, für sein eigenes Wohlergehen, für seine Emanzipation und für seine Evolution.
Und Deutschland könnte dabei vorangehen. Mit den weltweit meisten durchgeführten Bürger*innenräten hat sich in den letzten Jahren eine bewährte Praxis und eine umfassende Expertise entwickelt. Der Ruf nach vollständiger Implementierung der gelosten, deliberativen Foren in den politischen Regelbetrieb wird immer lauter. Dies birgt ein großes Potenzial, das weit über Deutschland hinaus reicht.
Es braucht nur ein Beispiel, das funktioniert, nur ein Vorbild, das den Mut hatte, etwas Neues auszuprobieren. Egal wie groß oder wie klein dieses Beispiel ist, die Inspiration, die von einem solchen, funktionierenden Beispiel ausgehen kann, ist kaum aufzuhalten in einer Welt, die sich dem Krieg der Hegemonien gegenübersieht und deren Menschen nach einem Ausweg suchen.
Es bestehen nur wenig Zweifel, dass gegen die Emanzipation ganzer Bevölkerungen, wenn sie zu erfolgreich wäre, mit Waffen gekämpft werden würde. Emanzipation als Angriff auf den Status Quo wurde auch historisch immer versucht, im Keim zu ersticken. Ein Szenario, das Angst macht, weil es so realistisch ist.
Deshalb muss der Wandel zu einer Demokratie, die tatsächlich funktioniert, vorstellbar sein, die Erfolge müssen mit eigenen Augen gesehen werden können. Es muss das Risiko wert sein. Dann finden die Menschen den Mut, dem Gegebenen zu widersprechen und sich demokratisch neu zu erfinden. Dies wäre eine großartige Chance, sowohl für Deutschland und Europa als auch für den Rest der Welt.
(763 Wörter)
Hier nun sieben Dinge, die jede*r Einzelne von uns tun kann.
1. Das Allerwichtigste ist, dem Narrativ aus dem Vorwort nicht mehr zu glauben. Dazu ein paar Extraworte:
Die Meinung, dass Bürger*innenräte kein Allheilmittel für die Probleme der Demokratie seien, ist so alt wie Bürger*innenräte selbst. Ein Demokratie-Instrument mit einer so großen Flexibilität, einem so hohen emanzipatorischen Potenzial und einer so transformativen Kraft übt selbstverständlich einen spürbaren Druck auf den Status Quo der Demokratie aus, und natürlich auch auf diejenigen, denen dieser Status Quo Sicherheit, Macht und Status verleiht. Dadurch entstehen massive Beharrungskräfte.
Das beginnt natürlich bei den Abgeordneten, die einen Verlust von Meinungs- und Entscheidungsmacht hinnehmen müssten. Aber auch Beamt*innen und Entscheidungsträger*innen in Verwaltungen müssten sich an die neuen Bedingungen anpassen und vielleicht eine neue Kultur des Miteinanders entwickeln.
Auch Institution in der politischen Bildung oder andere NGOs, die von Fördermitteln leben, und die sich in ihrer Arbeit oft wichtigen Teilaspekten des demokratischen Handelns widmen, müssten vielleicht umlernen und sich gegebenfalls neu strukturieren.
Dazu kommen Gewerkschaften, Verbände und Lobbyisten. Ihnen geht vielleicht die Deutungshoheit über ihr Metier verloren oder langjährig gepflegte Kontakte in Entscheidungspositionen.
In Bezug auf den Statusverlust wäre wohl die Medienlandschaft am meisten betroffen. Sie sieht sich als vierte Gewalt und würde nun zur fünften herabgestuft werden. Auch steht die Frage im Raum, ob sie gut verkäufliche Narrative der Spaltung und Hetze aufgeben wollte für Narrative der Einigung und des Funktionierens.
Und nicht zuletzt sind da die Nachbarn, Kollegen, Familie und Freunde, die es zwar nicht gut finden, wie es ist, aber sich eingerichtet haben und Veränderungen gegenüber grundsätzlich skeptisch sind.
Es gibt also viele Individuen und gesellschaftliche Gruppen, denen eine Änderung des demokratischen Status Quo gelinde gesagt ungelegen käme oder zumindest mal Unbehagen bereiten würde. Wenn sie alle unisono rezitieren, dass Bürger*innenräte kein Allheilmittel für die Probleme der Demokratie seien, dann ist höchste Vorsicht geboten! Es sollte tunlichst vermieden werden, dieses Narrativ zu glauben oder zu übernehmen.
2. Bürger*innenräte weiterdenken. Es liegt an jedem von uns, sie aus der Ecke der reinen Empfehlungen- und Wunschlisten-Aufstellung herauszuholen. Nur die volle Entfaltung ihrer Potenziale macht aus ihr ein Allheilmittel.
3. Geloste, deliberative Foren ausprobieren. In der Arbeit, im Verein, in der Hausgemeinschaft, im Kiez, in der Bildung, in der Erziehung. Es gibt immer da Verwendungsmöglichkeiten, wo gemeinschaftlich und im Namen vieler etwas entschieden werden muss.
4. Mit anderen Begeisterten vernetzen und Ideen und Erfahrungen weitertragen. Wir müssen Best Practice Beispiele sammeln und von Worst Practice Beispielen lernen. Das Ziel muss sein, auf den Tag vorbereitet zu sein, an dem die Gesellschaft darüber beraten wird, wie genau geloste, deliberative Foren Teil der institutionellen Gesetzgebung werden.
5. Den gewählten Parlamentarier*innen den Finger auf die Brust setzen und Fragen stellen: Welche Verbesserung der Demokratie und der parlamentarischen Ergebnisse haben Sie anzubieten, die gegen eine hybride legislative Demokratie mit ihren bevollmächtigten und legitimierten Bürger*innenräten spricht? Was ist Ihr Plan für eine besser funktionierende Demokratie?
6. Nur noch diejenigen in die Parlamente wählen, die sich für Bürger*innenräte stark machen, aber eben nicht als zahnlose Tiger, die nur beraten und nichts entscheiden dürfen.
7. Und vielleicht das Gewagteste, was jede*r von uns tun kann, ist, selbst zu kandidieren für einen Platz in einem Parlament, egal auf welcher Ebene. Jede*r von uns kann mit einer Selbstverpflichtung antreten, die dem Wahlprogramm voransteht und die der Ausgangspunkt allen parlamentarischen Handelns sein könnte. Diese Selbstverpflichtung (siehe auch The PreCondition Policy Initiative) könnte wie folgt lauten:
In dem Bestreben, die Rechte und das Wohlergehen der Bevölkerung von XXXX zu stärken sowie das Wohlergehen aller Menschen und des Planeten zu fördern, verpflichten wir, die XXXX-Partei / verpflichte ich, XXXX, als Unabhängige/r kandidierend, uns / mich nach der Wahl, für die Integration deliberativer demokratischer Strukturen innerhalb der bestehenden Legislative und der weiteren Regierungssysteme von XXXX einzusetzen.
Dazu gehört, den Bürgern in durch Losverfahren zusammengestellten deliberativen Foren dauerhafte Befugnisse zu geben,
• um Gesetze zu initiieren,
• um die Regierungen bei der Ausarbeitung von Gesetzen und der Entwicklung und Umsetzung von politischen Maßnahmen zu beraten,
• und um vorgeschlagenen Gesetzen zuzustimmen oder sie zur Überarbeitung an das Parlament zurückzuverweisen oder sie abzulehnen – vorbehaltlich einer Mehrheit oder vereinbarter (Super-)Mehrheiten.
Dazu gehört weiterhin die Einberufung von Bürger*innenräten,
• die die Gestaltung dieser neuen demokratischen Strukturen beraten und vereinbaren,
• die ein Programm zur Bereitstellung von Informationen über die Grundsätze und das vereinbarte Design an alle Bürger*innen erstellen – mit angemessenen Kontrollen im Hinblick auf die Verbreitung von Fehlinformationen –,
• und die einen Zeitplan für die Einführung der neuen Strukturen festlegen – vorbehaltlich eines positiven Volksentscheids.
Georg Rackow wurde 1982 in Mecklenburg geboren und ist dort aufgewachsen. Er studierte Germanistik, Romanistik und Journalismus. Nach anderthalb Dekaden als Kulturjournalist und Medienschaffender wechselte er in die Sprachpädagogik und zur Migrationsarbeit. Er ist Teil des paneuropäischen Demokratie-Kollektivs DD Networkers und Inhaber der Website www.deliberativedemocracy.net. Er setzt sich für ein hybrides legislatives Modell der repräsentativen Demokratie ein, das die Parlamentsarbeit mit gelosten, deliberativen Foren kombiniert.
Kontakt: info@deliberativedemocracy.net